– v e r s
Das kann sein, wenn man es nur hört und nicht liest (in einer Sprache): ein ungefähres Gefäß. Schaut man hin, könnte man meinen, etwas fehle.
Das Schauspielhaus Leipzig (ehemals Centraltheater) ist ein Haus in der Mitte Stadt Leipzig mit einer eigenen architektonischen Genese. Die Bühne als elementare Fläche, war einmal zentral konzipiert, wurde aber umgebaut und hat im Laufe der Stadtgeschichte eine neue architektonische Ausrichtung bekommen. Das Haus hat seit seinem Bestehen zahlreiche Veränderungen mitgemacht, hat Prothesen erhalten, ästhetische Ersetzungen vorgenommen, Inhalte und Standpunkte mittels über die Jahre sich erstreckenden Pläne vermittelt. Die Bühne als isolierter Schauplatz und Fokus der Dramen als auch die Positionierung des Publikums, verlagerten sich nicht nur abhängig zum jeweils dominanten Zeitgeist, auch räumlich wird die Bühne anders eingesetzt; die Auslastung differiert entsprechend.
Entlang seines Weges passiert der im Anzug bekleidete Zuschauer (und natürlich seine elegante Begleitung) keine Blumenhändler und Tabakverkäufer, gibt nur selten seinen Hut an der Garderobe ab, geht nicht mehr im Kreis bis er am Zentrum seiner Unterhaltung angekommen ist. Es sei denn: es ist eine performative Inszenierung, dann darf es wieder indirekt sein. Erinnerungen an die spezielle Vorstellung, positionieren sich gerade als veräußerliche Produkte, welche das Haus selbst abstrakt darzustellen versuchen: mit Zitaten, Mustern, Formaten und Flecken. Eine zweite Bahn wirkt über dem ursprünglichen Weg. Nichts ist mehr ganz direkt.
Hier sei es ein Raum, welcher stets Möglichkeiten für Wechsel und Neuinszenierungen bietet. Eine durchlässige historische Bühne inmitten der Stadt, zentral gelegen. Doch das Schauspielhaus an sich, welches den Rahmen für Inszenierungen bietet, hat welche Funktion? Was ermöglicht das Gebäude dem Publikum, exklusive der speziell von ihr gebuchten Vorstellung? Was bietet es den Stücken selbst? Wenn keine Aufführungen in ihm mehr stattfänden, wäre es noch das selbe Schauspielhaus? Wie im Überwinterungszustand stillstehend. Ist es in den Pausen, den Zwischenräumen und –zeiten stets ein potenzielles Schauspielhaus oder ein Niemandsland, gefangen zwischen sich wiederholenden Vorstellungen und klaren Grenzen sich konzeptuell widersprechender Welten? Wer beansprucht dann solche Zonen noch?
Wo oder wann fängt die Aufführung des jeweiligen Abends an? Sicher bald nach Ertönen des dritten Klingelns, mit Betreten des Garderobenfoyers spätestens, in der Kassenhalle zumindest, auf dem Weg zum Spielort ansatzweise - die Eintrittskarte berechtigt zur kostenlosen Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel vor und nach der Aufführung. Wie sind Grenzen definiert - wo und wann beginnt das Szenario? Warum nochmal die und wir nicht? Zu Hause angekommen.
Das Gebäude muß kontinuierlich stetige Rahmenbedingungen bieten. Quasi unsichtbar, objektiv, alles katalysierend. Oder behauptet es seinen Zweck, schafft sich seinen Sinn dadurch, daß es im Inneren Reserve und Platz für stetigen Wechsel bietet, ohne selbst einen eigenen Charakter haben zu müssen? Fläche für verschachtelte Welten, Hohlraum für Spiele in Spielen d'rin. Eine Bühne ist erhaben und enthoben. Sie ist herausgenommen aus dem Alltag, förmlich substrahiert, ausgestanzt. Was für eine spezielle Anziehungskraft das sein mag? Nichts zum Verwechseln. Klare Grenzen gibt es schon, auch gedankliche. Hintergründe werden zeitweise funktionell anders lesbar, changieren subtil je nach Referenz und neu gesetztem Bezugspunkt. Anderes bleibt einfach übrig.
Welche Kulisse bietet ein solches Gebäude an genau jenen Stellen, an denen es nicht explizit etwas als inszeniert setzt? Wie sonst ganz deutlich darauf hinweisend: dies ist eine dramatische Inszenierung mit Bezug zur Wirklichkeit, jedoch nicht damit identisch. Von was wären diese Stellen entleert?
Beraubt man der Bühne ihre Darsteller und Bilder, bleibt sie das Nächst-Darstellbare, nach Dramaturgie und Aufmerksamkeit sich Wandelnde; zumindest diese Bühne bleibt erreichbar. Zwangsläufig entsteht dabei ein neuer Meta-Rahmen, ein übergeordnetes Erklärungsmodell. Eine neue Transferzone entfaltet und etabliert sich automatisch. Sind solche Bereiche mit den selben Mitteln beanspruchbar? Wie stellt man auf einer leeren Bühne eine leere Bühne dar? Wie werden Zuschauer durch andere Zuschauer zu Darstellern ihres Zuschauens etc.? Open end.
Durch Ausdehnung eines Gesamtsystems werden die relativen Abstände der Bestandteile größer. Boah!
Theater liebt den Dialog. Zumindest muss es den Monolog mögen. Doch heißt es Schauspiel muß gesehen werden und nicht Hörspiel. Ein Theaterstück ohne Dialog – ist es noch ein Schauspiel oder schon ein Tanz, gar Performance? Etwas wird gewiß mithilfe von Wörtern durchdrungen. Wenigstens ein Laut – einer Sprache zugehörig – muß darin als menschliche Äußerung enthalten sein. Mehr als Rauschen, Pfeifen, Zischen, Ächzen, Brummen etc. Fehlt ein monologisches Zeichen, geht man im Rahmen ein. Die Verbindung zwischen Ton und Bild, die das Theater per se definieren soll, ist eine ganz eigentümliche und besondere hierarchische Kombination. Das Bild steht klar im Vorteil, geht es um Funktionalität, gar um's Überleben. Wer kann sich vorstellen, mit einem bildproduzierenden Apparat zusätzlich auch Töne und Geräusche einzufangen? Wozu sollte man das wollen?
Ein Telefon, das Bilder schießt.
Die primär zur sprachlichen Kommunikation entworfene Prothese beherbergt ganz selbstverständlich auch den hochwertigen Fotoapparat, nebenbei, am Rande als heimliche Zugabe. Bilder wollen sich automatisch zu Tönen gesellen, sie ersetzen und erweitern. Die Geräusche und Töne aber sind keine notwendige Erweiterung der Bilder. Mittlerweile sind bildproduzierende Telefone zum alltäglichen Standard geworden: beinahe paradox, aber tatsächlich praktisch.
Das Buch -vers stellt eine von Innen heraus begonnene Definition dar. Die sich in unmittelbarer Armlänge befindlichen, inhaltlich thematisierten Zwischenzeiten, -räume und Materialien, spiegeln sich in der ganzen Produktionsweise des Buches konsequent wieder. Entstanden während der Pausen in der Arbeitszeit durch Mitarbeiter des Schauspiels. Gefertigt aus Materialien und Resten der hausinternen Fachbereiche und Büros. Unbeworben und für die Gäste der Vorstellungen uninteressant. Zugegeben, als Supplement, ziemlich exklusiv.
Nimmt man nur einen Ausschnitt, überzieht das Ergebnis mit starkem Kontrast, referiert durch Reduzierung auf Historie, sortiert die Ergebnisse ein wenig in Kategorien, so bleiben abstrakte Muster übrig. Diese können wieder negiert werden, bleiben aber funktionell erhalten. Der Großteil kann auf dem Kopf stehen und erfüllt doch seinen Zweck. Es macht auch Sinn, es so weiter zu verwenden.
-vers wirkt antiquiert und ironisch; Denn es steckt hinter seinen eigenen Möglichkeiten zurück, es hat gewisse Lücken, die aber ganz leicht ihre Erfüllung finden können. Man kann ein Buch wie ein Gebäude betrachten, tatsächlich sehen. Manche sind wie Festungen, Türme, manch andere wie Gärten, wie Sandkästen, Fabriken, manche wieder wie Bibliotheken, andere wie Einkaufscenter und manche wie Gerüste und Lagerhallen.
– Gottfried Binder, Leipzig im Mai